Sprung in die Zeit – Anmerkungen zum Wesen der Bilder
Rätselhaft treten sie uns entgegen. Bilder in Schwarz-Weiß, mystisch verschwommen. Nicht wirklich ungegenständlich verweigert sich das Dargestellte seiner eindeutigen Benennung. Helle Grauschattierungen changieren ins Dunkle, schemenhafte Flächen scheinen sich zu überlagern und verschwinden ins unergründliche Schwarz. Räume tun sich auf, Bewegung wird evoziert. Das einzelne Bild hat seine Existenzberechtigung, vermag sich in der Serie zu behaupten und erscheint doch, als Teil eines Ganzen, als Ausschnitt einer Versuchsreihe.
Es ist die formale Reduziertheit des Dargestellten, die uns über das Gezeigte nachdenken lässt. Es ist jedoch weniger der Gegenstand, der in den Fokus der Betrachtung rückt. Vielmehr fragen wir nach der Essenz des Bildes selbst. Was sehen wir?
Faktisch stehen wir vor schwarz-weiß Drucken, deren Ausgangspunkt Fotografien sind. Fotografien, die wiederum übereinandergelegte Farbfolien auf einem Leuchtkasten ablichten. So ist der Umraum hell und unbestimmt. Dieses Vorgehen, das Objekt vor einem neutralen Hinter- bzw. Untergrund zu zeigen, erinnert uns an die Aufnahmen etwa Karl Blossfeldts oder Bernd und Hilla Bechers. Die hier angewandte Ästhetik, die stets mit der Neuen Sachlichkeit in Verbindung gebracht wird, fußt jedoch viel stärker auf den wissenschaftlichen Bildern der Aufklärung. Im Zuge der systematischen Erforschung und Erfassung der Welt spielte das Bild eine zentrale Rolle. Vor allem für die Botanik war der unmittelbar auf den Bildgegenstand gerichtete, und durch nichts abgelenkte Blick bedeutsam. Insofern wird deutlich, dass Elias Wessels Serie Sprung in die Zeit stilistisch vor dem Hintergrund einer langen Bildtradition zu betrachten ist. Im Gegensatz zu den Herbarien des 18. Jahrhunderts oder den Makroaufnahmen von floralen Stukturen Blossfeldts offenbart sich das dargestellte Objekt nicht in seiner Gänze, wird nicht sein Wesen entschlüsselt. Als wollte sich der analytische Blick der Fotografie in sein Gegenteil verkehren, tritt eine wahrnehmungspsychologische bzw. eine metaphorische Ebene der rationalen Betrachtung entgegen. Das Auge sieht zwar die übereinander gelegten Folien, unser Gehirn konstruiert, dank der Abstraktheit der Grauflächen, Formen, Figuren oder räumliche Tiefe. Hier werden wir aufmerksam gemacht auf die Komplexität und Individualität visuellen Wahrnehmens, bei dem das Wahrgenommene von gemachten Seherfahrungen abhängt. Am Beispiel Sprung in die Zeit, No. 1 (2014) wird ein Neugeborenes eine homogene schwarze Fläche erkennen, ein Kleinkind mag es als „schwarzes Quadrat“ benennen. Für einen Jugendlichen, mit seinem Wissen um Regeln der Perspektive und den gemachten Sehgewohnheiten öffnet sich ein dunkler Gang und damit eine illusorische und metaphorische Welt. Es sind auch unsere Sehgewohnheiten, die uns etwa bei dem Bild Sprung in die Zeit, No. 8 ein Dreieck in Bewegung, anstatt faktischer drei Dreiecke erkennen lässt. Der Kunstkenner hingegen stellt zudem Bezüge zu bedeutsamen Werken der Kunstgeschichte her, was tatsächlich nicht nur legitim, sondern auch befruchtend ist. Denn natürlich hat Kasimir Malewitsch mit seinem „schwarzen Quadrat“ im Jahr 1915 auf die grundlegende Frage was ein Bild sei, was Kunst leisten solle eine epochale Antwort formuliert, die in vielen Künstlern, an die wir hier ebenfalls denken müssen, nachbebte. Von Josef Albers, Ad Reinhard, Barnett Newman bis Hermann Nitsch. Die Ungegenständlichkeit in der Kunst, die als Abkehr neuzeitlicher Bild- und vor allem Denktraditionen war auch eine Gegenreaktion zur Existenz und Entwicklung des fotografischen Bildes.
Kehren wir zur zentralen Frage nach der Essenz des Bildes zurück. Jedwede Fotografie transportiert durch die Qualität des Mediums etwas, das wir mit „Authentizität“ benennen können. Die Beweiskraft des fotografischen Bildes beruht auf der unmittelbaren Beziehung zwischen dem Dargestellten und dem Bild selbst. Jede Fotografie, jedes ‚Lichtbild‘, ist Abbild, Spur dessen, was ‚abgelichtet‘ ist. Das Bild ist die faktische Spur von Etwas zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem benennbaren Ort; kurzum: es dokumentiert seine Existenz. Der französische Philosoph Roland Barthes hat diese Eigenschaft der Fotografie mit dem „Es ist so gewesen“ beschrieben. Tatsächlich schwingt auch bei jeder Fotografie das Thema der Vergänglichkeit mit, denn jener, festgehaltene Moment ist bereits unmittelbar nach dem Drücken des Auslösers ein vergangener. Es ließe sich konstatieren, dass die Fotografie selbst, also das lichtbasierte Aufzeichnungsmedium, den verzweifelten Versuch darstellt, den Moment, das Leben, im Bild zu konservieren und vor dem Vergessen zu bewahren. Jeder Fotografie wohnt somit die Qualität eines Memento mori, also der Bewusstmachung unserer eigenen Vergänglichkeit, inne. Das gilt selbstverständlich auch für die vermeintlich abstrakten Aufnahmen von Elias Wessel. In dem Maße wie Wessel die Beweiskraft der Fotografie in den Hintergrund rückt, verschleiert er auch die Momenthaftigkeit. Er tut dieses vor allem durch die Wahl des Sujets. Das Sujet ist eben kein dreidimensionales Objekt oder Subjekt in Bewegung, sondern zweidimensionale Farbfolien zwischen denen sich, da sie über einen längeren Zeitraum offen lagen, Feuchtigkeit und Staub angesammelt hat. Es sind diese kleinen Elemente, die eben nicht Makel eines druckgrafischen oder zeichnerischen Prozesses sind, sondern die als indexikalische Referenz an das Dagewesene gelesen werden müssen. Ansonsten scheinen sich die Fotografien den Qualitäten zu verweigern, die Fotografie eigentlich ausmachen, was am stärksten durch die Reduzierung auf Grautöne deutlich wird. Dabei ist das zentrale Thema von Wessels Serie Licht. Sowohl ist dieses Thema dem Medium der Fotografie eingeschrieben, als dass es auch in dem Sujet der Farbfolien im Gegenlicht zum Tragen kommt. Erst dieses Licht ermöglicht das Erkennen. Dort, wo die Farbfotografie jedoch sicherlich wunderbare Effekte hätte herausarbeiten können, beschränkt sich Wessel auf Schwarzweiß, die radikalste Reduktion: Weiß und Schwarz, Licht und Dunkel. Die formale Dialektik ist freilich auch eine symbolische. An dieser Stelle schließt sich die ethische Fragestellung nach der Existenz des Bösen an, die symbolisch durch das Dunkle verkörpert wird: Existiert das Schwarz an sich, oder taucht es nur dort auf, wo die Helligkeit abwesend ist? Das Böse ist, so schon bei Augustinus, der Mangel des Guten also Gottes (= Licht), wie Blindheit keine positive Qualität hat, sondern schlicht ein Nichtvorhandensein der Sehkraft beschreibt. Das Dunkel in Wessels Bildern erscheint dort, wo so viele Folien übereinanderliegen, dass kaum oder kein Licht von unten hindurchscheinen kann.
In letzter Konsequenz handelt Wessels Serie von Leben und Tod, von körperlicher Ausdehnung im Raum und dem Verschwinden in der Zeit. Chronologisch betrachtet beginnt Elias Wessels Serie Sprung in die Zeit mit dem schwarzen Quadrat und endet ebenfalls im Nichts, der auf einen dünnen Strich reduzierten Folie.
Die Auseinandersetzung mit dem Sprung in die Zeit, deren Betrachtung als Dialog der Fotografie mit der Malerei begann, offenbart sich als Reflexion über das Wesen des Bildes und damit über die Frage nach dem Sein an sich.
Christian Schoen (born 1970 in Marburg) is a German art historian and curator. He works on classical art (such as Albrecht Dürer or Auguste Rodin) and contemporary art phenomena. From 2000 to 2003 he co-curated the municipal gallery Lothringer13 in Munich. In 2005 he was appointed director of the Center for Icelandic Art, which he ran until 2010. As Commissioner he was responsible for the Icelandic Pavilion at the Biennale di Venezia 2007 and 2009. 2006 to 2008 he was member of the advisory board and the acquisition committee of the Reykjavík Art Museum. He co-founded the art festival Sequences in 2006. Since 2001 he is director of Osram Art Projects and assistant professor for transdisciplinary methods at the University St. Gallen, Switzerland (image courtesy Christian Schoen via Vimeo, 2017)