Beyond the Digital Promise: Virtual Communities and Democracy in Recent Contemporary History

In his essay »Jenseits des digitalen Versprechens: Virtuelle Gemeinschaften und Demokratie in der jüngsten Zeitgeschichte« (Beyond the Digital Promise: Virtual Communities and Democracy in Recent Contemporary History) PD Dr. Frank Wolff reflects on Elias Wessel’s It‘s Complicated series. Eleven long exposures that ­capture the process of scrolling through newsfeeds of ­social media platforms, where texts, languages, videos and ­pictures, ­insignificant posts and false statements blend and blur with facts, ­meaningfulness and relevant topics. Wolff comes to a crucial conclusion: »The emperor has a lot of gold, but he is naked«. The original version of the essay in German language is available below and here including footnotes.

Image of Elias Wessel, It‘s Complicated, No. 8 (image © Elias Wessel and VG Bild-Kunst Bonn, 2019)

 

Jenseits des digitalen Versprechens: Virtuelle Gemeinschaften und Demokratie in der jüngsten Zeitgeschichte

PD Dr. Frank Wolff (Neuere und Neueste Geschichte, Universität Osnabrück)

Das Versprechen des Internets verformt sich zur Dystopie. Als sich Anfang des Jahrtausends die digitale Welt vom Tummelplatz der Nerds zur digitalen Erweiterung der Gesellschaft öffnete, vibrierte das Netz vor Hoffnung. Das Web 2.0 versprach, durch schicke Oberflächen und vereinfachte Handhabung die alten Wege des Kommunizierens und Handelns aufzubrechen, Monopole zu umgehen. Heute steht uns die komplizierte Beziehung zwischen dem ökonomischen Segen und den sozialen Herausforderungen der digitalen Gesellschaft klar vor Augen. Dazu gehört jedoch eine dritte Ebene – die politische Seite der „digitalen Revolution“. Elias Wessels Kunstserie „It‘s Complicated“ verdeutlicht, dass diese drei Ebenen nicht voneinander zu trennen sind. Dabei ist die wirtschaftliche Seite schon durch den enormen Marktwert von Unternehmen wie Facebook und die soziale Seite durch dessen Selbstauftrag als „Social Media“ oder „soziales Netzwerk“ weithin offensichtlicher, als der schwierig zu fassende politische Aspekt der digitalen Öffnung der Welt. Um diesen etwas genauer herauszuarbeiten und um Elias Wessels Werkreihe als einen kritischen Beitrag zur Entschlüsselung dieses Kontext zu verstehen, lohnt sich ein Blick zurück – allerdings nicht allzu weit, denn wir bewegen uns trotz allen Spotts für Angela Merkels entsprechende Aussage, nach wie vor auf „Neuland“.

Demokratisches Rauschen?

Beim Aufkommen des Web 2.0 ging es um nicht weniger als die Demokratisierung der öffentlichen Kommunikation, der Medien, ja der Märkte schlechthin. Ungeachtet aller damaligen Klagen über die angebliche Depolitisierung der digitalen Generation, da diese sich nicht mehr in die üblichen Foren einbringe, politisierte das Schlagwort der Demokratisierung den digitalen Wandel von Beginn an. Das Streben nach einer Demokratisierung durch Digitalisierung stand für die Hoffnung, dass die öffentliche Rede bald nicht mehr gefiltert würde durch die Bastionen traditioneller Medien oder Konzerne. Anstelle deren Hierarchien sollten schnelle und direkte Vernetzungen treten – jenseits der klassischen sozialen und politischen Anlaufpunkte, seien es Parteien, Bürgerinitiativen oder Vereine. Vollkommen neue Wirtschaftszweige entstanden und die Arbeitswelt wandelte sich grundlegend. So war die Euphorie, dass neue demokratische Wege der Partizipation an der öffentlichen Gesellschaft entstünden keineswegs nur Gerede einiger Zukunftsromantiker, sondern stand im Kern des Versprechens der digitalen Gesellschaft. Mit „It‘s Complicated“ nimmt Elias Wessel zu Beginn der 2020er Jahre eine exemplarische Bestandsaufnahme der Resultate vor.

Bereits seinem Ausgangspunkt wohnt eine These inne: die Bastionen der alten Medien und Konzerne mögen geschleift sein, an ihre Stelle allerdings traten lediglich neue, noch größere Unternehmen. Er widmet sich dem Koloss Facebook. Man nennt es ein soziales Netzwerk. Indem Elias Wessel in „Its Complicated“ aber sein Scrollverhalten zum Bild gerinnen lässt, stellt er die Frage: Was ist eigentlich die soziale Handlung im sozialen Netzwerk? Der Zusammenprall zweier Radfahrer sei kein sozialer Akt, schrieb Max Weber, sondern „ein bloßes Ereignis wie ein Naturgeschehen“. Ein solcher entstehe erst, wenn man versuche auszuweichen, schimpfe oder sich prügle. So ist auch Facebook nicht per se sozial, weil Alle ständig posten können. Auch hier müssen Interaktionen hergestellt werden. Dabei wäre das gekonnte Aneinandervorbeirauschen, im Sinne Max Webers, zwar erfreulich, aber ökonomisch unattraktiv. Nicht das Ausweichen, sondern die Konfrontation sichert hier das soziale Geschehen. Es liegt darum keineswegs nur an den User*innen, dass der Austausch in den sozialen Medien fortwährend in kommunikativen Unfällen mündet. Die Unfälle zu produzieren, ist die wahre Aufgabe der sozialen Medien. Gewissermaßen sichert Elias Wessel einzelne Spuren auf dem Weg zu solchen Unfällen. Indem er Einzelaussagen zu einem Moment komprimiert, lenkt er jedoch den Blick vom Geschehen in einzelnen Posts auf jene Struktur, aus denen sie hervorgehen. Seine gezielte De-Kontextualisierung der Aussagen lässt gerade jenen Kontext hervortreten, in welchem sich diese Aussagen bewegen. Die in „It‘s Complicated, No. 1“ zu sehende Überlagerung eines schemenhaften Präsident Trump, Wahlprognosen zugunsten der AfD und reißerischer Headlines ist kein Zufall, sondern sie verdeutlicht, wie sich beim Scrollen und Lesen Aufregung zu einer Realität verdichtet. Das ist, so eine These dieses Essays, keine reine Bestandsaufnahme der Gegenwart. In den Bildern von „It‘s Complicated“ schimmert unter den vielen Ebenen an Worten, Farbe und Licht die Ambivalenz der Geschichte der Digitalisierung – und damit auch des Homo Digitalis – hervor.

Folgen wir diesen Spuren!

Plattformen wie Myspace, diverse Foren und die „Blogosphere“ eröffneten vor ungefähr zwei Jahr-zehnten weit über den engeren Bereich der schon zuvor vernetzten Computerliebhaber neue Dimensionen der Selbstpräsentation. Ein Jeder und eine Jede konnte nun öffentlich auftreten und potentiell ein Riesenpublikum erreichen – und ohne einen Bedarf an gewissen Privilegien, seien es persönlicheNetzwerke oder berufliche Positionen. Auch die Anerkennung von Personen mit solchen Privilegien war, zum Beispiel wenn es um das Talent zum Schreiben oder Musizieren ging, nicht mehr nötig. Was gibt es Demokratischeres, so der Gedanke, als der direkte individuelle Zugang eines Jeden zu den Foren der Öffentlichkeit. Warum einen Musikproduzenten oder eine Redaktion überzeugen und dann lange Produktionswege durchlaufen, wenn mein Werk mit einem Klick online und frei verfügbar ist? Inwieweit sind dabei allerdings, und diese Frage wirft Elias Wessel visuell auf, Aussagen noch als solche erkennbar, und wann werden sie zu Tönen eines nuancenarmen Rauschen?

Doch die Netzeuphorie der frühen 2000er machte nicht an den grenzenlosen Möglichkeiten der Selbstverteilung halt. Warum sollte nur mein Werk sofort und überall frei verfügbar sein? Alle Werke sollten demokratisiert werden! So ging der Austausch von Ideen Hand in Hand mit dem von Daten und Dateien. Die Kunstwelt trat ins Zeitalter der tatsächlichen technischen Reproduzierbarkeit von Kunstwerken ein – ohne Qualitätsverlust und durch zwei Klick mit der Maus. Rechtsklick: Kopieren. Rechtsklick: Einfügen. Fertig.

Und auch hier stand ein politisches Versprechen bereit. Die Aneignung dieser Werke geriet zum Akt ihrer Demokratisierung. So bekam das Versprechen ein Antlitz: Der Begriff des Piraten wandelte sich in einer erneuten Volte vom über Jahrhundert romantisierten Seeräuber zur Ikone digitaler Freiheit. Die verlockende Anarchie des Freibeuters wurde mit einer gewaltigen Prise Robin Hood gewürzt. Nachdem aber die ersten digitalen Netzwerke eng an konkrete Austauschhandlungen digitaler Gegenstände gebunden waren, hat Facebook dies geändert – Datensharing der alten Art ist hier unterbunden. Anders sieht es allerdings bei Wort und Bild aus, jedoch sind hier die „Schäden“ noch schwerer bezifferbar als beim Tausch von Musik- oder Filmdateien.

Die Komplexität der heutigen Aneignungsvorgänge sehen wir an Elias Wessels Bildern: Das eigene und das fremde Wort verschmelzen. User*innen teilen unentwegt Material fremder Autor*innen. Dies geschieht, wie in der privaten Alltagskommunikation, teils bewusst aber vor allem unbewusst. Nun hinterfragt Facebook allerdings ganz prinzipiell die Existenz von privater Kommunikation. Wessels Bilder strotzen wohl auch deswegen vor ästhetischer Energie, weil sie sich gewissermaßen aus dem Treibstoff des digitalen Mediums Facebook formen: Dem Aufbau eines eigenen Profils und damit der individuellen Kapitalisierung fremder Leistungen. Das Teilen beispielsweise eines Zeitungsbeitrags dient vordergründig dessen Verbreitung, ist de facto jedoch ein Beitrag zur Profilbildung jener, die ihn teilen und die darauf reagieren. Werbung oder Abgrenzung werden zu einem Akt der Aneignung und damit, frei nach dem Soziologen Andreas Reckwitz, Teil einer digitalen Subjektivierungsstrategie. Man grenzt sich von anderen User*innen ab, indem man die Grenze zwischen „Sharing“ und „Stating“ verwischt. Hierbei verweist Elias Wessels Überblendung jedoch darauf, dass all diese säuberlich vorgenommenen Selbstabgrenzungen nur der Vordergrund einer viel größeren digitale Aneignung sind, nämlich die der Plattform. Facebook gewinnt Kapital, weil User*innen ihr Profil bilden durch Material, was ihnen nicht gehört.

Der digitale Bürger

So führt „It‘s Complicated“ zu dem, was Reckwitz als eine Kernfrage moderner Gesellschaften beschreibt:Individuum und Gesellschaft sind keine Gegensätze, sondern aufeinander bezogene Ideen. Wenn Facebook in Zuckerbergs Worten die „Global Community“ als neue Gesellschaft errichtet, welche Form können darin Bürger annehmen? Hier schließt sich der Kreis zum „Sharing“. Schon John Locke stellte heraus, dass an der Frage des Eigentums nicht weniger hängt als die der persönlichen Freiheit und der bürgerlichen Gesellschaft. Die digitale Sphäre erlaubt es nun, dem Begriff des Eigentums – zumindest solange es die zunehmende Zahl digitalisierbarer Gegenstände betrifft – auf den des Zugriffsrechts zu reduzieren. Dies verwandelte die Besitzfrage in eine des Zugangs zu kommunikativen Netzwerken. Befand Rousseau auf dem Höhepunkt der Aufklärung, dass der Erste, der einen Zaun zog und das Dahinterliegende als sein Eigentum deklarierte, der „wahre Stifter der bürgerlichen Gesellschaft“ gewesen sein müsse, drehte die Idee des digitalen Bürgers dies um. Der Stiftungsakt des digitalen Bürgers sollte die Abschaffung der Zäune sein. In Mark Zuckerbergs Geschäftssprache hört sich das so an: „People sharing more – even if just with their close friends or families – creates a more open culture and leads to a better understanding of the lives and perspectives of others. “Vertreter*innen der Freien-Software-Bewegung warnten bereits mit dem Aufkommen der Tauschbörsen vor dem Unterschied zwischen „free beer“ und „free speech“. Zuckerberg hingegen weiter: „As people share more, they have access to more opinions from the people they trust about the products and services they use. This makes it easier to discover the best products and improve the quality and efficiency of their lives.“ Facebook, so können wir kurz übersetzen, verwandelte ganz offen zu Werbezwecken das Private in „free beer“.

Dabei argumentiert Facebook sich in die Tradition der digitalen Tauschbörsen hinein, bricht aber zugleich mit ihnen. Denn die Gewissheiten der Sharing-Kultur Facebooks entpuppen sich beim Blick auf Elias Wessel „It‘s Complicated“ als Fragen. Wer verfügt eigentlich über die Aussagen, die die User auf Facebook einlagern, wenn Werbung und Aneignung verschmelzen, Verteilungswege Betriebsgeheimnisse sind und die Lagerstätten des Wissens auf firmeneigenen Servern international verteilt stehen? Wem gehört eigentlich das in langer Vernetzungsarbeit erstellte persönliche Profil? Wenn es ein Versprechen der digitalen Welt war, Besitz portabel zu machen, so verhindert Facebook dies durch seine Geschlossenheit selbst für etwas genuin Digitales wie das individuelle Profil. Wie also, sähe ein digitaler Bürger nach Facebooks Façon aus? Dies führt letztlich zur zentralen Frage: In welcher Beziehung zueinander stehen eigentlich die auf „It‘s Complicated“ ins gemeinsame Rauschen abdriftenden Subjekte der „Digitalen Community“?

Gesellschaft als Wettbewerb

Mark Zuckerberg hat offen erklärt, sein großes Ziel „to help transform society for the future“ setze im Kleinen an, „with the relationship between two people. Personal relationships are the fundamental unit of our society.“ Das klingt schlicht, ist aber eine weitreichende gesellschaftstheoretische Aussage. Denn daraus folgt für ihn: „We think the world's information infrastructure should resemble the social graph — a network built from the bottom up or peer-to-peer, rather than the monolithic, top-down structure that has existed to date.“ Er verweist hier nicht nur auf die alte Hoffnung des Hierarchieabbaus durch Entäußerung, er entwickelt ein Gesellschaftsbild in der Sprache von Systemadministratoren. Was aber soll dies heißen?

Dies ist mit einem Blick etwas weiter zurück zu entschlüsseln: In seinen Forschungen zu den allerersten Softwarepiraten in den 1980er Jahren stellt der Historiker Gleb Albert heraus, dass schon die frühesten Cracker-Gangs Jahre vor dem Internet auf ihren Tauschbörsen die neuen Formen des Austauschs, der Vernetzung und der digitalen sozialen Codes schufen. Die Antwort der Außenwelt war der Versuch 10der Kriminalisierung des Neuen, denn in der Tat untergruben die Austauschplattformen die traditionellen Vertriebswege von Software. Und auch hinter diesen Kopiernetzwerken stand letztlich die Idee einer vernetzten und im steten Austausch befindlichen Welt. Dies bedeutet in den 1980er Jahren, wie Albert herausstellt, auch eine klare Identifikation auf der westlichen Seite des Kalten Krieges. Es ging um Freiheit. Und der Begriff wurde in liberal-konservativer Tradition als negative Freiheit interpretiert, also die Abwesenheit von Schranken. Die Cracker schlossen sich in Gruppen zusammen und strebten arbeitsteilig nach Bekanntheit, indem sie sich im Kampf um Anerkennung gegenseitig zu übertrumpfen versuchten. Dabei traten sie allerdings keineswegs gegen jenen Markt an, den sie untergruben, sondern sie schufen einen eigenen, der viele Regeln des alten übernahm, de-regulierte und modernisierte. Nicht Resistenz gegen die Monopole, sondern Disruption mittels Mimikry. So erachteten sich die Cracker als Pioniere einer freien demokratischen Welt, schufen dabei aber eine Szene, die sich nach neoliberalem Marktdenken ordnete. Ihre Währung bestand nicht aus Dollars, sondern aus „Fame“, welcher sich im Gegensatz zu heute nicht durch „Likes“, sondern die Menge und Reichweite der digitalen Kopien bemaß. Im Umkehrschluss steckt aber auch hinter dem heutigen „Like“, wie wir den Aufruf wiederholt auf Elias Wessels Bildern finden, kaum mehr als eine Empfangsbestätigung durch das digitale Kapital in Form von „Freunden“.

Facebook ist hierbei nicht der erste Versuch, solche digitalen Organisationsschemen auf Gesellschaft zu übertragen. Die Speerspitze dieser Philosophie materialisierte sich in Form der Piratenpartei. Diese träumte einerseits von Liquid Democracy und damit der De-Hierarchisierung des Parteiwesens durch neue digitale Abstimmungswerkzeuge. An ihr zeigte sich allerdings auch, dass die obskure Mischung von Aussagen und Eindrücken, die Elias Wessels „It‘s Complicated“ durchziehen, einer politischen Zuckerberg, „Facebook’s Letter“.9Gleb J. Albert, „Subkultur, Piraterie und neue Märkte: Die transnationale Zirkulation von Heimcomputersoftware, 101986-1995“, in Wege in die digitale Gesellschaft: Computernutzung in der Bundesrepublik 1955-1990, hg. von Frank Bösch und Martin Sabrow (Göttingen: Wallstein Verlag, 2018), 274–99.Charles Taylor, Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus, 3. Aufl. (Frankfurt am Main: 11Suhrkamp, 1999).Grundstruktur des sozialen Netzwerks selbst entspringen. Inhaltlich strebte die Piratenpartei nach in Parteiform gegossener Überparteilichkeit, indem sie sich zum Beispiel weigerte, parteipolitische Richtungsentscheidungen verbindlich für ihre Mitglieder festzulegen. Alle Meinungen sollten präsent sein können auf dem innerparteilichen Marktplatz. Dies war im Sinne der digitalen Demokratisierung nur konsequent – offenbarte aber letztlich auch, dass entgegen aller Rhetorik ihrer Idee der Demokrati-sierung kein kollektiv emanzipatorisches Projekt zugrunde lag, sondern die Auflösung kollektiver und damit kompromissbasierter Ideenbildung. Dabei vertrat die Piratenpartei einen ganz spezifischen Aspekt, der für die Interpretation von „It‘s Complicated“ zentral ist: Sie verstand den politischen Diskurs in den Logiken von Netzwerken, Datenbanken und digitaler Tools als eine „1:n“ Beziehung. Eine jede Stimme könne gehört werden, sie stehe nur einer Vielzahl anderer Stimmen entgegen. Innovationskraft forme sich demnach nicht länger um Werteorientierung und Leitideen, sondern durch Aufmerksamkeit und Disruption. So fiel der rasante Aufstieg der Piratenpartei nicht zufällig mit dem der sozialen Netzwerke zusammen. „A network built from the bottom up or peer-to-peer“, schrieb Zuckerberg, und fügte hinzu, beim „Hacker Way“ gewännen stets die besten Ideen. Gesellschaft als kompetitive Veranstaltung.

Die strukturelle Individualisierung bei gleichzeitiger inhaltlicher Beliebigkeit war bei beiden also kein Ergebnis, sondern der Ausgangspunkt ihrer Visionen von sozialer Gemeinsamkeit. Was bei „It‘s Complicated“ im Farbverlauf mündet, ist die Absage an die Idee sozialer Beziehung durch ein soziales Netzwerk, beziehungsweise durch ein Unternehmen, welches den Begriff des „sozialen Netzwerks“ verschleiernd zu nutzen weiß. Indem Elias Wessel unseren Blick an seine Wall bindet, sehen wir kondensiert, was wir sonst als Abfolge wahrnehmen: Die angeblich gleichberechtigte Gegenwart jedweder Aussagen, deren Ordnungsmuster sich allein in den Geschäftsgeheimnissen der Algorithmen versteckt. Hier erweist sich Facebook einerseits als ein Erbe der digitalen Frühromantik und der Vorstellung einer Gesellschaft der addierten Individuen. Andererseits nutzt es nicht das einst erhoffte Emanzipationspotential, sondern bündelt die fragmentierten Teilnehmer*innen zu schlichter Marktmacht.

Auf dem Markt der Skandale

Elias Wessels Statement, es sei kompliziert, überträgt eine Beziehungsaussage von Facebook auf Gesellschaft. Auf der Plattform ist sie eine der vorgegebenen Optionen, den eigenen Partnerschaftsstatus zu definieren. Dabei spiegelt dieses angeblich die Frage ablehnende Seufzen die Binnenökonomie des Netzwerks: Diese Aussage ist eine Aufforderung zur Nachfrage, die keineswegs beantwortet werden muss, sondern deren Zweck allein in der Aufmerksamkeit liegt.

Denn dank der verborgenen Funktionsregeln des Netzwerks sichert allein Aufmerksamkeit die Präsenz. Hier trägt man ein familiäres Erlebnis genauso zu Markte, wie die Aufregung über ein politisches Ereignis oder eine absurde Erklärung eben dafür. Letztendlich konnte das, was angeblich als ein Werkzeug zum Kontakthalten unter Freunden begann, ökonomisch nur erfolgreich sein, indem es politisch wurde. Zuckerberg, „Facebook’s Letter“.

Dabei nutzen die sozialen Medien genau jene inhaltliche Beliebigkeit, die der Piratenpartei zum Verhängnis wurde, als Marktchance. Allein zum Selbsterhalt fördern die sich als Plattformen verkleidenden Meinungs-konzerne Aufmerksamkeit, um Reaktionen (und damit die sich analoge Münze umsetzbare Währungs-einheiten „Verbleibdauer“ und „Klickintensität“) zu produzieren. Sie entwerfen eine digitale Gesellschaft, die Kommunikation als Marktverhalten konzipiert. Eine derart organisierte digitale Gesellschaft wirft ihre Bürger und Bürgerinnen auf eine Individualität zurück, die durch neue Formen des Eigentums in Form digitaler Währungen – Anerkennung in Form von Shares und Likes – konstituiert ist. Facebook, Twitter und deren jüngere Nachkömmlinge heben letztlich Margaret Thatchers Ausspruch „There is no such thing as society“ in die soziale Realität des 21. Jahrhundert. Somit können wir den Anfangssatz dieses Beitrags ein wenig konkretisieren: Nicht das Internet selbst gerät zur Dystopie, sondern sie wohnt jenem Prozess inne, indem wir schleichend die nach neoliberalen Träumen gestalteten Kommunikationsräume der sozialen Netzwerke zur digitalen Gesellschaft aufwerten.

Der Schlüssel des Erfolgs dieser Netzwerke ist dabei, dass sie dem Nutzer suggerieren, selbst die Macht zur Disruption zu besitzen. Es ist nicht der Selbstwert der Vernetzung, der die User anzieht, und auch weniger die oft kritisierte Normalisierung der steten Selbstdarstellung, sondern vielmehr das damit verbundene Gefühl, etwas hervorrufen, Skandale aufgreifen, ja vielleicht sogar produzieren zu können. In diesem Sinne fügen sich die sozialen Medien in die längere Mediengeschichte ein, in der seit dem Anbruch des Zeitalters der Massenmedien im 19. Jahrhundert mediale Macht maßgeblich von der zur Produktion von Skandalen ausgeht, nur dass sie dies nun angeblich entkomplizieren und mit einem Mausklick ermöglichen. Dies hat grundlegende Auswirkungen auf die reale Gesellschaft. Denn in dem Maße, in dem wir unsere Aussagen auf dem sozialen Medienmarkt kommerzialisieren, um überhaupt wahrgenommen zu werden, verformt sich auch die öffentliche Kommunikation hin zum Markt. Je mehr Kommunikation sich in den Bahnen der sozialen Medien bewegt, desto stärker geraten Aussagen zu Rohstoffen derer Aufmerksamkeitsökonomie. Eine Größe von „It‘s Complicated“ liegt darin, Aussagen als Scrollmomente zu behandeln und damit die Absurdität der Interaktionen zu offen-baren. Auf die Aussage „Das nächste rechte Massaker wird in einer Lügenpresseeinrichtung stattfinden“ konnten die Leser*innen, zweierlei reagieren: „Gefällt mir“ oder „Kommentieren“. Dabei ist vollkommen unerheblich, ob sich hinter „Gefällt mir“ im interaktiven Raum weitere Klickmöglichkeiten verbergen – nicht die Reaktionsvielfalt, sondern die Kommunikationsart normalisiert diese Aussage wie alle anderen auf dem entsprechenden Bild. Man simuliert einen Austausch und schafft nur Markt.

Auf diesem kommt einer akribisch und mit substantiellen materiellen Ressourcen betriebene Recherche ebenso viel Rohwert zu, wie einer mit Wut und begrenztem Wissen aufgestellten Erklärungen von Dingen, die man unbedingt schon einmal erklären wollte. Da der Marktwert dieser Rohstoffe nicht durch den Inhalt selbst, sondern durch die Reaktion auf ihn entsteht, formt sich Kommunikation um das Streben nach positiver oder negativer Verstärkung. Somit beruht die gesellschaftsverändernde Position der sozialen Medien in For m von Twitter und Facebook keineswegs allein auf dem Narzissmus der sich darin Tummelnden und auch nicht auf dem Wunsch, sich fortwährend neu zu vernetzen, sondern letztlich auf dem Versprechen einer den Usern übergebenen Macht zu Emotionalisierung und Skandalisierung. Ein jeder wird sein eigenes Klatschblatt.

Wenn alles wert ist, diskutiert zu werden, so lange eine entscheidende Zahl an Menschen sich damit beschäftigt, wird alles zu Inhalt, was Befindlichkeit und Aufregung auslöst. Somit löst sich der Digital Citizen im Reich der sozialen Medien vom seit der Aufklärung verfolgen Ideal des selbstverantwortlichen,selbstverfügenden und selbstbeschränkten modernen Bürgers. Anstelle der bürgerlichen Repräsentation tritt die individuelle Reichweite, gemessen in fiktiven Währungen und gebunden in fremdbestimmten Kommunikationskanälen. Somit schlummert in den mittlerweile größten Akteuren des Internets, welches wir noch vor wenigen Jahren als den ultimativen Ausdruck einer demokratisierenden Moderne feierten, das Ende ebendieses spätaufklärerischen Projekts. Und dann würde es erst richtig kompliziert.

Die Aneignung der Aneignung

Wie dem begegnen? Eine erste Möglichkeit zeigt Elias Wessel in seinen Bildern. Wie in des „Kaisers neue Kleider“ blickt er genau hin, um zu erkennen, was da als neue Medienwelt gepriesen wird. Eine Medienwelt, in der Selbstbewerbung das inhaltsreichste Element zu sein scheint, kann wohl mit Fug und Recht als entleert beschrieben werden. Die Klage hierüber wäre keine Kunst. Elias Wessels Kunst zieht sogar noch weitere Aufmerksamkeit auf Facebook. Im Sinne von Marshal McLuhans „The Medium is the Message“ lenkt er sie aber durch die Visualisierung der absurden Kopräsenz von Gedanken, Gebrabbel und Gewalt von den Einzelaussagen auf die Form der Plattform. Die Aussage „It‘s Complicated“ spiegelt dabei sein Verhältnis zum Digitalen. In mehreren Werkreihen adressiert er dessen Dynamiken einerseits kritisch, bezieht aber andererseits zugleich nicht nur sein Rohmaterial, sondern auch das Medium seiner Kunst selbst aus dieser. Dabei reproduziert er allerdings nicht die Ergebnisse der Algorithmen, sondern er verfremdet sie. Nicht die lauteste Aussage gewinnt in seinen Bildern den Wettkampf um Sichtbarkeit, sondern dies entscheiden weitere, den Algorithmen Facebooks externe Faktoren wie Helligkeitswerte, Scrollgeschwindigkeit oder Ästhetik. Er befragt nicht den Wahrheitsgehaltder einzelnen Aussagen, sondern die Gestalt der Hülle.

So zeigt seine Kunst auch, dass es ein Fehler wäre, sich im kulturpessimistischen Lamento zu ergötzen und das Neue schlichtweg zu verfluchen. Auch in der herkömmlichen analogen Demokratie liegt stets die Möglichkeit ihrer Selbstabschaffung. Es wäre falsch, die digitale Welt oder das Internet mit den darin operierenden sozialen Medien gleichzusetzen. Dies ist es ja gerade, was die Plattformbetreiber suggerieren wollen. Wichtig ist allerdings die Einsicht, dass der Rede von der Demokratisierung der Gesellschaft durch den Segen des Internets letztlich eine Verwechslung zugrunde liegt, nämlich die Verwechslung von Dezentralisierung und Demokratisierung. Die unfraglich existenten neuen Freiheiten des Internet beruhen auf Strukturen der Vernetzung und des Austausch, die in sich starke desintegrative Kräfte bergen. So ist Dezentralisierung janusköpfig. Einerseits erlaubt sie Kommunikation und Innovation, öffnet Nischen und ermöglicht Szenen, die Kulturen werden können. Sie kann all dies andererseits aber auch unterbinden, wenn enorme Wirtschaftsmacht auf einen sozialrechtlich weitgehend unregulierten Raum, trifft. An diesen müssen Normen von außen herangetragen werden. Hier kann ein Blick in die Geschichte ermutigen, denn die Normierung des Neuen, die Zügelung seiner Kräfte galt auch anfangs der industriellen Revolution, beim Aufkommen der Massenmedien oder im Zuge der Sozialstaatsdebatte Anfang des 20. Jahrhunderts als ein zugleich unmögliches und illegitimes Unterfangen. Und doch war sie unausweichlich.

Die neuen sozialen Medien geben vor, Kommunikation zu dezentralisieren, verdichten aber die Kommunikationswege erstens strukturell durch die Inkompatibilität der Plattformen und ihrer virtuellen Währungen und zweitens durch die gigantische reale Kapitalakkumulation ihrer Betreiber. So bemächtigen sie sich nicht nur der Grundstrukturen des digitalen Raums. Sie verschieben vielmehr die Knotenpunkte gesellschaftlicher Organisation von analogen Institutionen wie Parteien oder Vereinen zu kommerziellen Softwareanbietern, sie organisieren Macht neu. Eine zweite Möglichkeit, dem zu begegnen, liegt darum in der Frage, ob wir unsere Demokratievorstellungen an ihnen ausrichten, oder ob wir die Plattformen demokratisch einhegen, ihrem Netzwerkcharakter also soziale Pflichten auferlegen. Indem Elias Wessel unseren Blick auf Facebook durch Überlagerung verkompliziert, leitet er uns zu einer dafür entscheidenden Erkenntnis: Der Kaiser besitzt zwar viel Gold, aber er ist nackt.

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PD Dr. Frank Wolff is a historian and researcher at the Institute for Migration Research and Intercultural Studies (IMIS) at Osnabrück University. His publications include Die Mauergesellschaft: Kalter Krieg, Menschenrechte und die deutsch-deutsche Migration 1961–1989 (Suhrkamp, 2019) and What Is a Migration Regime? Was ist ein Migrationsregime?, Springer VS, 2018 (image courtesy of Frank Wolff via Facebook, 2019)

 

 

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